Das kann kein Zu­fall sein…
In die­sem Pro­gramm geht das En­sem­b­le TaG dem Phä­no­men Zu­fall auf den Grund. Was in Lu­toslaws­kis St­reich­quar­tett von un­be­re­chen­ba­rem, ein­ma­li­gem Zu­fall – aus­ge­löst durch die spon­ta­nen Ent­schei­dun­gen der In­ter­p­re­ten – be­ein­flusst wird, wur­de bzw. wird in den bei­den Stü­cken von Mei­er bzw. Bi­sig/Ko­cher vom Com­pu­ter «ge­wür­felt».
Das neue Stück von An­d­ré Mei­er hin­ge­gen ist in je­dem Satz und bei je­der Auf­füh­rung des Stü­ckes ei­ne neue Be­trach­tungs­wei­se der­sel­ben Ma­te­rial­ei­gen­schaf­ten. Es ist längst nicht al­les Zu­fall, aber es wird ihm «ein be­stimm­ter Raum über­las­sen» um so­mit ei­nen Grad an Un­be­stimmt­heit zu ge­ne­rie­ren. (An­d­ré Mei­er/Mar­tin Flü­ge)

En­sem­b­le TaG
Das 1992 ge­grün­de­te En­sem­b­le TaG Win­ter­thur nimmt ei­nen fes­ten Platz im Kul­tur­le­ben der Stadt Win­ter­thur ein und ist pro­du­zie­ren­des En­sem­b­le im Thea­ter am Gleis (TaG) Win­ter­thur. Pro Kon­zert­sai­son wer­den rund fünf Pro­jek­te rea­li­siert, die im­mer wie­der von Ra­dio SRF 2 Kul­tur auf­ge­zeich­net wer­den. ­Ne­ben den Kam­mer­mu­sik­wer­ken des 20. Jahr­hun­derts steht der Kon­takt zu Kom­po­nis­tin­nen und Kom­po­nis­ten der Ge­gen­wart im Zen­trum. Ein wei­te­res An­lie­gen der En­sem­b­le­mit­g­lie­der ist es, die Mu­sik dem Pu­b­li­kum zu ver­mit­teln, sei es in Ge­sprächen nach den Kon­zer­ten oder auch durch die Kom­po­si­ti­on der Pro­gram­me, die ­Be­zü­ge schafft, Ver­bin­dun­gen her­s­tellt oder sich an un­ter­schied­li­che Hö­re­rin­nen und Hö­rer wen­det.

Wi­told Lu­toslawk­si (*25.1.1913, War­schau; 7.2.1994, eben­da) gilt als Ver­t­re­ter der neu­en pol­ni­schen Ex­pres­si­vi­tät und nahm da­mit ei­ne Mitt­ler­stel­lung zwi­schen se­ri­el­ler und alea­to­ri­scher Kom­po­si­ti­ons­wei­se ein. Bis et­wa 1945 stan­den sei­ne Kom­po­si­tio­nen zu­nächst un­ter dem neo­klas­si­zis­ti­schen Ein­fluss von Igor Stra­wins­ky, ge­folgt von ei­ner Pha­se, in der er sich vor al­lem mit Volks­mu­sik und Bé­la Bar­tók au­s­ein­an­der­setz­te. Seit Mit­te der Fünf­zi­ger ex­pe­ri­men­tier­te Lu­toslaw­ski zu­neh­mend mit se­ri­el­len und alea­to­ri­schen Tech­ni­ken, die ihn auch mit den Vor­stel­lun­gen von John Ca­ge kon­fron­tier­ten.

Lu­toslaws­kis Steich­quar­tett – von we­gen Cha­os!
Es wa­ren un­kom­po­nier­ba­re Klän­ge. Im «Con­cer­to for Pia­no and Or­che­s­t­ra» von John Ca­ge ist fast al­les dem Zu­fall über­las­sen. Die freie Kom­ple­xi­tät, die da­bei her­aus­kommt, war für Lu­toslaw­ski ei­ne Of­fen­ba­rung. In Lu­toslaws­kis «St­reich­quar­tett» (1964) ste­hen nicht mehr vier Stim­men übe­r­ein­an­der. Vier Käs­ten sind er­sicht­lich und je­der ent­hält ein So­lo. Fest­ge­legt ist, wer wann be­ginnt – und dass al­le ihr So­lo so lan­ge spie­len, bis, zum Bei­spiel, die ers­te Gei­ge die nächs­te Ab­tei­lung er­reicht hat.
Nach den Ton­punk­ten des ein­sa­men An­fangs le­gen sich lang ge­st­reck­te Seuf­zer übe­r­ein­an­der. Die Ges­tik, die Wär­me, die Far­be sind ein­heit­lich, er­kenn­bar. Sei­ne Mo­ti­ve, sei­ne Ges­ten sind kör­per­lich, sub­jekt­haft und zu­g­leich ab­strakt. (Aus: ZEIT ON­LI­NE Vol­ker Ha­ge­dorn 3. Ja­nuar 2008)

An­d­ré Mei­er (*1974) stu­dier­te Trom­pe­te bei Ru­dolf Lin­der Kom­po­si­ti­on an der Hoch­schu­le der Mu­sik- Aka­de­mie Ba­sel (2002–2007) bei Det­lev Mül­ler-Sie­mens und Erik Oña, da­zu als In­stru­men­ta­list Im­pro­vi­sa­ti­on bei Wal­ter Fähnd­rich (Kon­zert­rei­fe-Di­p­lom) und Com­pu­ter­un­ter­stütz­te Kom­po­si­ti­on bei Phi­l­ip­pe Ko­cher an der Zürcher Hoch­schu­le der Küns­te (ZHDK). Nebst sei­ner mu­sik­päda­go­gi­schen Tä­tig­keit am Kon­ser­va­to­ri­um Win­ter­thur wid­met sich An­d­ré Mei­er vor­wie­gend der Neu­en und im­pro­vi­sier­ten Mu­sik. An­d­ré Mei­er spielt im DUO THAND mit dem Elek­tro­ni­ker Tho­mas Pe­ter da­ne­ben tritt er als frei­schaf­fen­der Mu­si­ker so­wohl so­lis­tisch wie auch kam­mer­mu­si­ka­lisch auf.

An­d­ré Mei­ers «The Sa­me (Not) The Sa­me»
In dem mehr­sät­zi­gen Stück be­schäf­ti­ge ich mich mit fei­nen, gro­ben und vor al­lem zu­fäl­li­gen Ab­wei­chun­gen inn­er­halb for­ma­ler Wie­der­ho­lun­gen und mu­si­ka­li­schen Zel­len. Da­bei sind die­se Dif­fe­ren­zen teil­wei­se von vorn­he­r­ein ge­setzt oder aber sie er­ge­ben sich aus pro­vo­zier­ten zeit­li­chen Un­schär­fen und über zu­fäl­lig ve­r­än­der­te Tem­po/Zeit-Ver­hält­nis­se zwi­schen den In­stru­men­tal­stim­men. Da­durch er­k­lingt bei je­der Wie­der­ho­lung oder Auf­füh­rung das­sel­be zu­fäl­lig an­ders. Vi­el­leicht lies­se es sich auch be­sch­rei­ben als ei­ne ex­t­re­me Form von un­ter­schied­li­chen In­ter­pre­ta­tio­nen ei­nes (mu­si­ka­li­schen) Tex­tes.
Der Zu­fall be­stimm­te, nebst den be­schrie­be­nen Un­schär­fen, auch ganz grund­sätz­lich mein kom­po­si­to­ri­sches Vor­ge­hen. So wur­de der No­ten­text nicht in tra­di­tio­nel­ler Wei­se No­te für No­te ge­setzt, son­dern ent­stand aus pro­gram­mier­ten ge­ne­ra­ti­ven und re­kur­si­ven Al­go­rith­men, wel­che stark vom Zu­fall be­ein­flusst sind. Ich pro­gram­mier­te  ei­ne Art von «struk­tu­rell-dy­na­mi­schem Bio­top», in wel­chem die mu­si­ka­li­schen Struk­tu­ren qua­si von sel­ber zu­fäl­lig ent­ste­hen. (An­d­ré Mei­er)

Phi­l­ip­pe Ko­cher (*1973) stu­dier­te Kla­vier, elek­troa­kus­ti­sche Mu­sik, Mu­sik­the­o­rie, Kom­po­si­ti­on und Mu­sik­wis­sen­schaft in Zürich, Ba­sel, Lon­don und Bern. Sein In­ter­es­se gilt glei­cher­mas­sen elek­tro­ni­scher Mu­sik und In­stru­men­tal­mu­sik. Der Com­pu­ter, ver­wen­det zur Klang- und Parti­tur­syn­the­se, ent­wi­ckel­te sich in bei­den Ge­bie­ten zu sei­nem wich­tigs­ten Werk­zeug. Ne­ben sei­ner Tä­tig­keit als Kom­po­nist ar­bei­tet er am In­sti­tu­te for Com­pu­ter Mu­sic and Sound Tech­no­lo­gy (ICST) als wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter und Soft­wa­re-Ent­wick­ler so­wie als Do­zent für Mu­sik­the­o­rie und Com­pu­ter­mu­sik an der Zürcher Hoch­schu­le der Küns­te (ZHdK).

Da­ni­el Bi­sig (*1968) stu­dier­te an der ETH Zürich Na­tur­wis­sen­schaft und pro­mo­vier­te an­sch­lies­send in Mo­le­kular­bio­lo­gie. Da­ni­el Bi­sig ar­bei­te­te von 2001 bis 2008 als Obe­ras­sis­tent am La­bor für Künst­li­che In­tel­li­genz der Uni­ver­si­tät Zürich. Seit 2006 ist er als Wis­sen­schaft­ler am In­sti­tu­te for Com­pu­ter Mu­sik and Sound Tech­no­lo­gy der Zürcher Hoch­schu­le der Küns­te tä­tig. Da­ni­el Bi­sig hat an der Schnitt­s­tel­le zwi­schen Kunst (Neue Me­di­en, Ge­ne­ra­ti­ve Kunst) und Wis­sen­schaft (Künst­li­che In­tel­li­genz, Künst­li­ches Le­ben) ver­schie­de­ne Ar­bei­ten rea­li­siert. Die­se um­fas­sen Soft­wa­re- und Hard­wa­re-Ent­wick­lun­gen im Kon­text künst­le­ri­scher For­schung, ge­ne­ra­ti­ve Fil­me, au­dio­vi­su­el­le In­stal­la­tio­nen und in­ter­ak­ti­ve Me­di­en für Tanz­auf­füh­run­gen.

Bi­sig/Ko­chers «Trails I»
Mu­sik und Vi­deo wur­den bei die­sem Werk gleich­zei­tig und ne­ben­ein­an­der kre­i­ert. Da­mit wur­de ver­sucht, äst­he­ti­sche Be­zie­hun­gen zu schaf­fen und gleich­zei­tig die Selb­stän­dig­keit bei­der Me­di­en zu wah­ren. Die Her­an­ge­hens­wei­se be­stand da­rin, struk­tu­rel­le Ge­mein­sam­kei­ten zu er­ar­bei­ten und Ton und Bild auf den­sel­ben For­ma­lis­men auf­zu­bau­en, ins­be­son­de­re auf Al­go­rith­men, die das bio­lo­gi­sche Phä­no­men des Schwarm­ver­hal­tens si­mu­lie­ren. (Phi­l­ip­pe Ko­cher)